Homeschooling

Keine einzige Minute kreativen Unterrichts

04:13 Minuten
Ein Junge mit Kopfhörern sitzt beim Homeschooling vor einem Bildschirm.
Unterricht auf simple Frage- und Antwortschemata reduziert: Für die Schrifststellerin Eva Sichelschmidt hat die Coronakrise die Missstände an den Schulen verschärft. © imago / Jochen Tack
EIn Standpunkt von Eva Sichelschmidt · 24.06.2020
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Überforderte Lehrer wie Schüler und Wissensinhalte, die auf Formblättern abgehakt werden können: Die Coronakrise habe Eltern ungeahnte und ernüchternde Einblicke in den Schulalltag ihrer Kinder gegeben, sagt die Schriftstellerin Eva Sichelschmidt.
Optimismus ist nur ein Mangel an Information, das stellte der Dichter und Dramatiker Heiner Müller fest, lang vor der Erfindung des Internet. Inzwischen leiden wir an einer Art von Überinformation und es scheint so, als wäre Optimismus nie unangebrachter gewesen als heute.
Das gilt auch für unser Schulwesen. Das durch die Pandemie eingeführte Homeschooling brachte uns ungeahnte Einblicke in den Schulalltag der Jüngsten. Was hatte man zuvor schon gewusst? Man war ja nie dabei gewesen.
Eltern neigen dazu, die Lehrinstitute ihrer Kinder zu überschätzen. Wenn man sich für eine bestimmte Schule entschieden hat, will man an ihre Güte glauben, an das, was einem am Tag der offenen Tür geboten wurde und auf den schön gestalteten Internetseiten steht. Erst nach der Unterzeichnung des Schulvertrags folgt die Realität.

Ein Albtraum für Familien

Das Kind kommt mit einem Wust an kopierten Blättern nach Hause, der Ranzen wird immer schwerer, die Unterrichtsstunden nehmen mit den Schuljahren zu. Ein Nachhilfeunterricht muss bezahlt werden, denn die Anforderungen der Schule sind hoch, was im Umkehrschluss bedeutet, dass der Nachwuchs vielleicht nicht ganz so helle ist wie erhofft.
Viele Eltern trauen den Lehrern, fremden Menschen also, mehr zu, als ihren eigenen Kindern.
Doch brechen die Kinder morgens nicht weinend zusammen und entwickeln keine augenfällige Essstörung oder Depression, bleibt man zuversichtlich.
So war es bis gestern und so hätte es noch eine Weile gehen können, wäre da nicht ein unheimliches Virus aufgetaucht, das den Familien einen ganz neuen Albtraum bescherte:

Überraschende Einblicke in den Alltag der Kinder

Das Homeschooling, eine Erfindung, auf die nur der Anglizismus passt, Hausunterricht würde es einfach nicht treffen. Denn von Unterricht im ursprünglichen Sinne konnte hier nur in Ausnahmefällen die Rede sein. Die Kinder wurden allenfalls beschult, irgendwie beschäftigt. Homeschooling fand auf unterschiedlichen Plattformen statt und bot, setzte sich die Mutter in gebührendem Abstand zum Bildschirm, einen überraschenden Einblick in den Alltag der Kinder, den Lehrplan und die Arbeit der Lehrkräfte. Man konnte, wie unsere Großmütter gesagt hätten, "Mäuschen spielen" und: wundert sich. Jetzt wissen wir also, woran wir sind.
Das Online-Format überforderte Schüler wie Lehrer gleichermaßen, beschäftigte die Eltern ganztags und machte sie nackt. Bei der ersten Zoom-Konferenz der Klasse hörte man die Mutter von Leon staubsaugen, den Vater von Anna sah man in der Unterhose das Wohnzimmer aufräumen. Die Verbindung zum Lehrer war so schlecht, dass man ihn nur in einer abgehackten Stakkatostimme vernahm. Das Gesicht war ohnehin nicht zu erkennen, da der Lehrer sich aus Gründen des Schutzes der Privatsphäre ins Gegenlicht gesetzt hatte. Es fanden unzählige Gesprächsrunden statt, in denen der Wochenplan und die Arbeitsblätter besprochen wurden – doch keine einzige Minute kreativen Unterrichts.

Die Lage ist mehr als ernst

Nach dieser leeren Zeit im digitalen Klassenzimmer steht fest, die Lage war schon vorher ernst, der Ausnahmezustand hat sie nochmals verschärft. So formalisiert, so auf simple Frage- und Antwort-Schemata reduziert, so verkürzt in der Methode Informationsweitergabe und anschließendem Test, so beschränkt auf die bloßen Sachzwänge war Unterricht wohl niemals zuvor.
Die Kinder sind Versuchskaninchen in einer Öde von minimaler Allgemeinbildung, bei der alle Wissensinhalte auf Formblättern abgehakt werden. Von Lernen und Kommunizieren kann keine Rede sein. Nicht erst beim E-Learning wurde alle Verantwortung auf die Betroffenen übertragen.
Die Kinder sind die Verlierer in einer Krise, die nicht nur eine virale ist. Mit der Vergeudung ihrer Lebenszeit, mit dem Opfer ihrer Lebensfreude bezahlen wir unsere hilflose Zuversicht.

Eva Sichelschmidt wuchs am grünen Rand des Ruhrgebiets auf. 1989 zog sie nach Berlin, wo sie als Kostümbildnerin für Film und Oper arbeitete und erst ein Maßatelier für Abendmode, dann das Geschäft «Whisky & Cigars» eröffnete. 2017 erschien der Roman, «Die Ruhe weg» (Knaus), 2019 "Bis wieder einer weint" (Rowohlt). Sie lebt in Rom und Berlin.

© Juergen Bauer
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