Einen Stift zur Hand nehmen und zeichnen: Es sind Fixierungen eines Momentes in seiner Flüchtigkeit und Intensität zugleich. Zeichner:innen, Maler:innen, Bildhauer:innen, Objektkünstler:innen, oft auch Tänzer:innen und Musiker:innen, greifen immer wieder auf dieses Medium zurück. Sie nutzen die Zeichnung als Momentaufnahme oder zur Erforschung und Untersuchung von Gedanken und Themen. Durch ihre Direktheit und besonders große Nähe zu seinem Autor erhält die Zeichnung jedoch auch immer einen besonderen Eigenwert.
Das Konzept der Ausstellung setzt bei Zeichnungen an, die darüber hinaus noch Ergebnisse eines anderen Weges zeigen. Im Fokus stehen zeichnerische Zugriffe, die sich selbst weiter verändern oder durch ihren besonderen Entstehungsprozess schon die Veränderung in sich tragen, die sich selbst zu anderen Bereichen öffnen: Farbe, dem Text, dem Objekthaften, die dreidimensional werden, Ton, Wort etc. bekommen, sich real oder in Gedanken zu bewegen beginnen.
In "a bit on the side III - Zeichnung auf Seitenwegen" werden genau solche Arbeiten gezeigt.
Arbeiten, bei denen die Zeichnung Ausgangs-, Mündungs- und gleichzeitig Mittelpunkt ist, eben weil sie durchaus neue Wege, Umwege, Seitenwege geht, andere Bereiche und künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten mit nutzt und sich selbst damit weitet. Da dies naheliegenderweise kaum grundlos passiert, öffnen sich die Arbeiten natürlich
auch inhaltlich. Und so geht es thematisch bei dieser Ausstellung eben nicht nur um eine Technik und ihre „Überschreitung von Grenzen“, sondern um Arbeiten, die ebenso inhaltlich Grenzwanderungen, Tiefengrabungen, Raumöffner, Dimensionserweiterer und Verwandler sind, die scheinbar Banalem eine völlig neue Dimension geben, in sonderbare Gedankenwelten entführen und unterschiedlichste Realitäten zeigen, welche offenbar permanent parallel zum „Gewohnten“ existieren.

Eröffnung

Nina Brauhauser

In meinen Arbeiten stehen sich fotografierte Zeichnung / fotografierte Plastik und Plastik wechselseitig als Referenten zur Verfügung. Die Vorstellung einer Bewegungslinie ist beiden gleichermaßen Ursprung. Beide Formulierungen finden ihre endgültige Form erst im Prozess. Das Zitat, das zeichnerisch formulierte Zeichen, das in der hermetischen Abgeschlossenheit der Oberfläche des fotografischen Materials seine endgültige Darstellungsform findet, wird in der Plastik zur autonomen und von der Gedankenskizze losgelösten Behauptung im Raum. Die Transformationsprozesse innerhalb der Arbeiten verhandeln immer wieder neu was dem Zeichen selbst und was den des Mediums inhärenten Regularien zuzuordnen ist. Bei den fotografischen Arbeiten der "Converted Drawings“ und „Converted Skulptures“ ist das Weiß des Papiers gleichermaßen raumbildend für den gezeichneten Körper und Substitut des Körpers selbst - im fotografischen Sinne die Lichtquelle, die zugleich durchleuchtet und sichtbar macht. Die fotografischen Arbeiten entziehen sich möglicherweise auf den ersten Blick der Zuordnung in ein konkretes Medium. Sie sind fotografische Tableaus, die hinter ihrer Oberfläche die Malerei, das Relief, das Objekt oder die Zeichnung simulieren. Der Moment der Verunsicherung, der bei der Betrachtung der Arbeiten entsteht, indem nicht nur die Zuordnung, sondern vielmehr die Unterscheidung von Original und Kopie, Bild und Abbild, Realität und Imagination, unmöglich wird, befreit das Bild aus seinem Referenzrahmen. Als selbstreferentielle Zeichen bestehen sowohl die fotografischen als auch die plastischen Arbeiten. Die Plastiken entstehen unmittelbar aus der Bewegung, sie dienen mir in ihrer Unverfälschtheit und Klarheit als Antipode zur fotografisch visualisierten Wirklichkeitskonstruktion.

www.ninabrauhauser.de

Evelina Cajacob

Seit 30 Jahren entwickelt die Schweizer Künstlerin Evelina Cajacob (*1961) ein stilles Werk, das Objekte, Zeichnungen und Videoarbeiten umfasst. Treibende Kräfte sind dabei immer wieder der Dialog mit dem Raum, die Auseinandersetzung mit dem Material, die Bewegung sowie die Dimensionen der Zeit. Einzelne ihrer Arbeiten nehmen Bezug auf konkrete Situationen, andere spiegeln Erinnerungen. Alle ihre Werke sind geprägt von einer grossen Sinnlichkeit. Die sichtbaren Momente werden zugleich aber auf sehr feine Art zum Ausgangspunkt für gedankliche Reflexionen, die über das Hier und Jetzt hinausführen.
Die Arbeit "BergZeichen" wurde 2017 für das Kunstprojekt Arte Albigna im Bergell konzipiert und dort zum ersten Mal in einer Berghütte auf 2500 M.ü.M. gezeigt. „Evelina Cajacob findet mit ihrer Videoinstallation einen Ausdruck für das, was sie in ihrem bisherigen Werk primär beschäftigte: die Linie, die Repetition, manuelle Tätigkeiten. Gezeichnete Linien sind ein wiederkehrendes Motiv in Cajacobs Arbeiten. Im Video entrücken sie ihrer gewohnten Zweidimensionalität. Unterschiedliche Formen und Strukturen bildend, sind sie offen für vielfältige Assoziationen und Interpretationen. Mit der Verwendung des Seils wie es Kletter*innen in den Bergen benutzen, finden Alpinist:innen eine mögliche bildhafte Anknüpfung. Die ‚BergZeichen‘ im Video sind aber vor allem ‘dreidimensionale und bewegte Zeichnungen‘ der Künstlerin.“ (Claudia Klammer)

www.evelinacajacob.ch

Marta Colombo

Ich bin sehr fasziniert vom Medium Zeichnung, seiner Emanzipation und seinem Potenzial. Mit diesem Medium arbeite ich auch im realen Raum und definiere meine Installationen als „Drawing in Space".
„The Voice of Drawing“ (2021) beschäftigt sich intensiv mit formalen und visuellen Strategien zwischen experimenteller Zeichnung, Komposition, skulpturalen Prozessen und Szenografie. Für „Scenographic Laboratory“ (2020) und „The Voice of Drawing" (2020) habe ich im Raum mit partizipativen Praktiken gearbeitet. Die Besucher:innen konnten meine Materialien und Objekte bewegen und verändern. Sie wurden eingeladen über Themen wie Komposition, Assemblage und Raumästhetik zu reflektieren und Entscheidungen zu treffen. Januar und Februar 2021 musste ich wegen der pandemischen Situation alleine im Installationsraum arbeiten.

www.martacolombo.de

Anna Lytton

Berühren und berührt werden, sichtbar machen und verhüllen. Bleistiftlinien auf der Haut, eine innere Welt, die sich auf der äußersten Hülle offenbart. Aus Bewegungen und Gesten entsteht ein Zusammenspiel zwischen Körper und Zeichnung.
Musik: Mike Majkowski
Kamera: Marie Zahir
Performance: Susanne Grau
Tonmischung: Gerald Schauder

www.annalytton.de

Gerhard Reinert

Sekundenfilme sind wichtiger Bestandteil des intermedialen zeichnerischen Vorgehens von Gerhard Reinert. Seit den Anfängen des Internetbooms in den 2000er Jahren stellte er interaktive Filme her, die ihre Erscheinung mit der Bewegung des Cursors über die Bildoberfläche ändern. Multidimensionale Bewegungen von Linien, Punkten, Buchstaben und komplexeren Bilder flirren, pulsieren und verschwinden im Bildraum. Neue Mikrokosmen erscheinen.
sekundenfilme.de umfassen zeichnerische Augenblicke, das zwinkernde Augenlid, ein interaktives Skizzenbuch mit Elementarzeichnungen von Fenstern, Tisch und Stuhl sowie eine Vielzahl weiterer Verknüpfungen zu experimentellen Filmen wie "Leporello", "Kulturbeutel", "Fliegende Linien" und "Nervenimpulse".

www.gerhardreinert.de

Mira Schumann

Die Arbeitsreihe „neue Geschichten“ besteht aus Kleininstallationen, Zeichnungen, Folienobjekten und Texten. Die einzelnen Elemente verweben sich miteinander, fließen ineinander und schichten sich übereinander. Gezeichnete oder plastische Figuren, Tierpräparate und Gegenständen des Alltags, führen - zusammen arrangiert - zu seltsamen Konstellationen, stellen den Betrachter vor befremdliche Situationen, werden zu einem Geschichte, das neue Inhalten offenbart – nie jedoch bis zu Ende ausformuliert. Die neue Geschichte selbst entsteht erst im und durch den Betrachter. Er ist es, der die Schichtung zu einer Geschichte weiter denkt und dabei selbst mit einfließt.
Die Texte sind auf Folien geschrieben, schweben scheinbar vor dem Hintergrund, lösen sich vom Stofflichen, vom Greifbaren - unausgesprochene (unsagbare) Worte im Raum, schleichen sich in uns ein, formen Widerspruch und – heimlich - unsere Sicht.
Es sind Materialcollagen, in denen diese Worte, Bilder, Materialien und Assoziationen die Komplexität menschlicher Situationen und menschlichen Erlebens einfangen, und dem Betrachter erahnbar machen. Auf den ersten Blick bekannt scheinende Rollenverteilungen, Figuren-Tyoen und Konstellationen, wie sie in unser Alltagsleben eingeflossen und darin verankert sind, werden komplett ausgehebelt und unmöglich gemacht, Eindeutigkeiten heben sich gegenseitig auf, verkehren einander, geraten ins Wanken.
Intimität und Blöße, Geborgenheit und Bedrohung, Gut und Böse, Täter und Opfer – sie verlieren ihre Eindeutigkeit, verschwimmen, fließen in einander, und es stellt sich die Frage, ob sie nicht vielleicht sogar jeweils Eins sind - im Zwiespalt vereint.

www.members.dokom.net/mira.schumann/Seiten/Ausstellung00.html

Samuel Treindl

Samuel Treindl studiert nach seiner Ausbildung zum Drechsler zunächst Design und danach Freie Kunst in Münster an der Kunstakademie bei Ayşe Erkmen und Mariana Castillo Deball. Treindl war in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen vertreten, wie in der Ausstellung „Produktionsblase“ in der Kunsthalle Münster 2017 und nahm u. a. an der Emscherkunst 2016 teil. Treindl erhielt zahlreiche Auszeichnungen, wie das Arbeitsstipendium der Stiftung Kunstfonds, den Preis der Nordwestkunst 2019, das Projektstipendium Künstlerdorf Schöppingen, die Projektförderung Kunststiftung NRW, sowie Nominierungen für den Designpreis der Bundesrepublik 2014 und 2016. Neben der eigenen künstlerischen Tätigkeit unterrichtet er im Rahmen von verschiedenen Workshops und Lehraufträgen. Zurzeit lebt und arbeitet er in Münster. Seine Arbeiten sind partizipativ und prozessorientiert angelegt und bewegen sich frei zwischen Bildhauerei, Design, Aktionskunst und Architektur.

www.samuel-treindl.de